Das Innenleben von Organisation verstehen - jenseits von Management-Modewörtern

Stefan Kühl, führender Organisations-Soziologe, an der Universität Bielefeld lehrend, stemmt sich gekonnt gegen grassierende Management-Moden und deren Schlagworte.

Wer das Innenleben von Organisationen verstehen will, der war immer schon gut beraten, auch nach den Büchern und Forschungen des Bielefelder Soziologie-Professoren Stefan Kühl zu greifen. Mit manchen seiner wissenschaftlichen Buchpublikationen hat er sogar Bestseller-Status erreicht ("Wenn die Affen den Zoo regieren: Die Tücken der flachen Hierarchien" und "Sisyphos im Management"). Wer einen lockeren und leseleichten Zugang zu seinen Positionen sucht, findet ihn in seinem aktuellen Buch. Hierfür hat er 111, zwei- bis maximal vierseitige Aufsätze verfasst, in denen er Schlüsselbegriffe der aktuellen Debatten thematisiert und zumeist sehr kritisch analysiert. Hervorgegangen sind viele Beiträge aus seinem Podcast "Der ganz formale Wahnsinn" (gemeinsam mit Andreas Hermwille), gleichnamig zum Buchtitel. Andere Beiträge sind überarbeitete frühere Beiträge, anderes ist ganz frisch für das vorliegende Buch verfasst. Die Aufsätze zu den Begriffen sind alphabetisch geordnet und verweisen mit Pfeilen in den Texten auf andere Beiträge im Kontext. Das macht den Einstieg in das Buch leicht, weil jeder Leser Lektüre-Prioritäten nach seinen eigenen fachlich-beruflichen Interessen setzen kann. 

Kleine Warnung an den Leser. Mainstream ist Stefan Kühl nie. Ganz im Gegenteil blickt er äußerst kritisch auf moderne Mode-Begriffe. Für ihn ist das Meiste, wenn nicht (fast) alles schon da gewesen. Er warnt vor Hypes. Längst verklungen und vergessen die vehementen Forderungen nach Lean Management und Reengineering. Aber ebenso zurückhaltend möge man dann heute bitte in der Beurteilung von Agilität und New Work sein, so Kühl. Und er kann das alles sehr gut beurteilen. Kühl ist ein Systemtheoretiker in der Schule von Niklas Luhmann. Mit profunden und historisch weit zurück reichenden Kenntnissen der Managementforschung  und -Lehre. Er kennt sich eben nicht nur bei Institutionen wie Schule, Krankenhaus, Armee und Hochschulen gut aus, sondern ebenso in Unternehmen, inklusive den Erkenntnissen der Managementwissenschaften. Er weiß eben auch, was alles schon sehr früh Peter Drucker und heute Henry Mintzberg kannten, er kennt die großen Soziologen-Kollegen wie Parsons aus dem Effeff ebenso wie die Bestseller der Unternehmens-Berater (wie bspw. die Exzellenz-Publikationen von Waterman/Peters) - und schätzt diese Letzteren in ihrem langfristigen Erkenntnisgehalt meist kritisch ein. Vor allem warnt er vor der heutigen Manie, etwas in einer Branche als richtig Erkanntes (z.B. IT, Start Ups) gleich auf alle Branchen und Unternehmensgrößen übertragen zu wollen. 

Alles schon einmal da gewesen, das ist der eine rote Faden bei Kühl. Beispiel: die heute vielfach geforderten Kriterien zur Erfolgsmessung, die sogenannten OKR ("Key Objectives Results"). In seiner "Strategie"-Kolumne heißt es: "Wenn man modern erscheinen möchte, nennt man diese Tausende von Subzwecken in einer Organisation nicht mehr simpel "Zielvorgaben" oder "Zielvereinbarung", sondern "Objectices and Key Results", und gibt damit einem altbekannten Konzept einen agilen Touch" (S. 216). 

Der andere rote Faden heißt: man kann die Dinge auch genau anders herum sehen als deren heutige Hype-Propheten. Beispielsweise bei der viel geforderten Agilität. Ohne die Vorzüge einer starken Fokussierung auf Mitarbeiterorientierung zu übersehen, stellt er in seinen auf Hierarchien bezogenen Kolumnen, deren Vorzüge markant fest, vor allem bei sehr großen Organisationen und in unsicheren bis krisenhaften Situationen. In seiner "Selbstständigkeit"-Kolumne mahnt er die Verantwortlichen, nicht von allen Mitarbeitern gleichermaßen Innovationsfreude, begeisterte Identifikation mit dem Arbeitgeber und Orientierung an den großen-Unternehmenszielen zu fordern: "Organisationen erreichen ihre Leistungsfähigkeit nur dadurch, dass sie ihren Mitarbeitern verbieten, sich an den übergeordneten Zielen dieser Organisation zu orientieren, und diese stattdessen lediglich die ihnen vorgeschriebenen Aufgaben erledigen" (S. 207). Entsprechend ätzend greift er in die aktuelle "Purpose"-Debatte ein, die ja vor allem durch die Berater-Branche forciert wird: "Das Problem ist, dass die Ausrichtung auf einen 'Purpose' Veränderungen blockiert, die nicht zu diesem 'Purpose' passen... Die Rigidität der Orientierung an einen Zweck erweist sich als Hindernis" (S. 209). So in seiner Kolumne zum Begriff "Sinn". Und er legt in einer der letzten Kolumnen des Buches heftig nach. Zunächst fragt man sich, ob ein Artikel zum Begriff "Zynismus" überhaupt passend im Buch-Kontext ist. Aber in seinen Betrachtungen legt der Autor aus, dass der Ausstieg aus einer Wohlfahrtsorganisation nach 15 oder 20 Jahren für die über eine Kündigung Grübelnden keine triviale Sache ist - und da hilft einfach manchmal eine zynische Haltung gegenüber dem von der Geschäftsleitung beschworenen Werte-Kanon beim schlichten Überleben im Job. Hinzu kommt: "Das Management betrachtet einen Zynismus primär als Problem der Mitarbeiter. Dabei übersieht es in vielen Fällen, dass Organisationen, die über Jahrzehnte frei von Zynismus gewesen sind, sich diesen durch eine Hyperaktivität bei der unter dem Label der 'Purpose Driven Organizations' geführten Sinnsuche überhaupt erst eingehandelt haben" (S. 274). Oder, wenn Kühl gegen die heute populäre Forderung von sich selbst organisierenden Teams mit der Realität in den meisten Organisationen konfrontiert: "In den meisten Fällen werden jedoch 'Inseln der Selbstorganisation' in Form von sich selbst steuernden Teams oder teilautonomen Gruppen in eine hierarchische Grundstruktur eingepasst. Diese Einbettung in eine hierarchische Grundstruktur führt zu Effekten die inmitten all der Begeisterung häufig übersehen werden" (S. 204). Das ist alles gegen den mehrheitlichen Zeitgeist. Aber es ist wohltuend nüchtern gedacht und formuliert. 

Auch wenn er diese Grundlinien des Autors schnell versteht, wird sich mancher Leser dann dennoch immer wieder fragen, wie mancher Begriff die Aufnahme ins Buch geschafft hat. Wie kann man denn beispielsweise einem Phänomen wie "Heuchelei" einen berechtigen Platz im Innenleben einer Organisation zuweisen? Man vielleicht nicht, Kühl schon. Er zeigt auf, warum Unternehmensleitungen manches ins Schaufenster stellen, ja notwendigerweise müssen, anderes aber nur verkleiden oder gar ganz verschweigen: " Aber letztlich wird das Lernen verhindert, weil ... als Gründe für das Scheitern nur Allgemeinplätze genannt werden - Lernen könnte man aus dem Scheitern nur, wenn die Daimlers, Boeings und McDonald's bereit wären, nicht nur regelmäßig Erfolge zu vermelden, sondern auch ihre gescheiterten Projekte zur Diskussion stellen würden, aber da greift das nur schwer zu verletzende Gesetz der Tabuisierung von konkretem Scheitern" (S. 203). Gute PR- und Kommunikationsmanager werden zwar das Etikett "Heuchelei" für ihr Tun kaum gut finden, aber nach Lektüre dieses Artikels womöglich dennoch erleichtert aufstöhnen: Da hat einer uns, unsere Rahmenbedingungen, unsere Zwänge verstanden.

Bei Stefan Kühl hat das alles einen Theorie-geleiteten Hintergrund. Ganz ähnlich wie Goffman ("Vorder"- und "Hinterbühne") unterscheidet der Bielefelder Soziologe für die Strukturen von Organisationen eine "formale Seite" (offizielle Strukturen und Mitgliedspflichten), eine "informale Seite" im Innenleben (ungeschriebene Regeln der Unternehmenskultur mit inoffiziell geduldeten Abweichungen vom vorgegebenen Kurs) und eine sogenannte "Schauseite" (PR/Kommunikationsmanagement). Das alles kommt zum Ausdruck über Kommunikationswege, Programme, Personal. Vor seinem fruchtbaren 9-Felder-Schema (vgl. S. 275 - 280) handelt der Autor die thematisierten Begriffe ab.

Und da diese 111 Begriffe und die dazugehörigen Kolumnen es allesamt in sich haben, seien sie hier aufgezählt. Der Leser möge sich das heraussuchen, das ihm am meisten zugesagt, und die Lektüre damit beginnen:

Agilität, Aktionspläne, Auskühlung, Authentizität, Automation, Autonomie, Benchmarking, Beobachtungen, Bewegung, Bilanzfälschung, Blinde Flecke, Bullshit, Businesspläne, Cliquen, Coaching, Compliance, Demokratie, Digitalisierung, Disruption, Entscheidungen, Erfolg, Evaluation, Familien, Feiern, Fortschritt, Freundschaften, Führung, Führungskräftebeschimpfung, Fusion, Ganzheitlichkeit, Gefühle, Gemeinschaft, Geschlecht, Gewalt, Gewinn, Gratifikationskrise, Großkonferenzen, Gruppen, Haltung, Heuchelei, Hierarchie, Honorar, Identifikation, Innovation, Integrität, Jobwechsel, Kameradschaft, Karriere, Kompetenzdarstellungskompetenz, Komplexität, Kontaktinfektionen, Krisen, Kultur, Kündigung, Leitbilder, Lernen, Löhne, Macht, Managementmoden, Mitarbeiterorientierung, Moral, Motivation, Nachhaltigkeit, Partizipation, Personal, Personalauswahl, Personalentwicklung, Persönliches, Professionen, Programme, Projekte, Projektgruppen, Qualitätsmanagement, Rankings, Reformen, Regelbruch, Reputation, Scharlatanerie, Scheitern, Selbstorganisation, Selbstständigkeit, Sinn, Slack, Standardisierung, Strategien, Systemisches, Tabus, Teams, Technik, Transparenz, Verorganisierung, Verständigung, Vertrauen, Vierfelder-Schemata, Vorreiter, Wachstumsschmerzen, Webkonferenzen, Werte, Wertschätzung, Win-win-Situationen, Wissenschaftsgläubigkeit, Workflow, Workshops, Zahlen, Zeitdiagnosen, Ziele, Zwang, Zwecke, Zyklen, Zynismus.

Fazit: für die groben Vereinfacher der Organisations- und Unternehmenswelt und ganz sicher für viele in der Beraterzunft wird das Buch eine Zumutung sein. Für die Freunde des differenzierten Denkens hingegen ein großer Gewinn. Denn, um Stefan Kühl abschließend zu zitieren, mit den beiden Schlussätzen über die Intention seines Buches: "Es kann dabei helfen, unterkomplexes Denken und voreilige Schlüsse zu vermeiden. Es gibt eben immer auch noch etwas anderes, und es ist bestimmt nicht so einfach, wie es auf den ersten Blick aussieht" (S. 278).

Markus Kiefer

 

(Kolumne von Markus Kiefer vom 15. Juni 2024 auf www.markus-kiefer.eu)

Empfehlung

Stefan Kühl, Der ganz formale Wahnsinn, 111 Einsichten in die Welt der Organisationen, Vahlen, München 2023, 283 S., ISBN 978-3-8006-6887-8, Euro 24,90 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Erschienen am 15/06/2024 08:46
von Markus Kiefer
in der Kategorie : Für Sie gelesen
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