Die Grenzen digitaler Kommunikation erkennen

Natürlich gibt es viele Verantwortliche, die die während der Pandemie gefundenen digitalen Wege als neue Kommunikations-Normalität zementieren wollen. Jedoch, ist das Vermeintliche Naheliegende auch richtig?

Es ist schon vielfach vom unaufhaltsamen Siegeszug der Digitalisierung geschrieben worden. Und die Pandemie hat jetzt zusätzlich noch bewiesen, ohne die digitalen Optionen wäre die Kommunikation in Organisationen und untereinander völlig in sich zusammengebrochen. Aber nun, im 16. Corona-Monat zeigen sich gleichfalls immer deutlicher die Grenzen des digitalen Begegnungs-Raums.

Insofern sollten wir Vorsicht vor jenen Kommunikations-Propheten walten lassen, die apodiktisch verkünden, ein Zurück ins Vor-Pandemie-Zeitalter werde es nicht geben und die zugleich den unbedingten Vorrang der digitalen Kommunikation fest zementieren wollen. Und in manchen Bereichen der Wirtschaft ist ja auch unübersehbar, dass Strategen die Corona-Ära als Vorwand nutzen, um vermeintlich alte (Kommunikations-) Zöpfe abzuschneiden und um die Weichen eindimensional in Richtung einer vermeintlich günstigeren, effektiveren und zeitgemäßeren Digitalkommunikation umzustellen - endgültig und unwiderruflich. Die Videokonferenz und die neuen Intranet-Prozesse als Dauerlösung, bei Minimierung des individuellen persönlichen Kontakts und aller persönlichen Touchpoints. 

Aber ja, natürlich ist es - unter dem Gesichtspunkt der Kommunikationskontrolle - eine feine Sache, Aktionärsversammlungen in physischer Abwesenheit kritischer oder gar wütender Aktionäre durchzuführen, die mit ihren Wortmeldungen im Meeting nicht durchdringen oder es resigniert gar nicht erst versuchen. Und natürlich tut den verantwortlichen Managern eine virtuelle Betriebsversammlung mit einer von Sorgen um Arbeitsplätze durchgeschüttelten Belegschaft viel weniger weh - wer wird sich schon vor Hunderten oder gar Tausenden Unsichtbaren im virtuellen Raum zu Wort melden? 

Jeder Lehrer, jeder Dozent, jeder Kommunikationsmanager von Change-Projekten, jeder Verantwortliche für Innovationskommunikation, sie alle werden aus den letzten Monaten vielfach von Erfahrungen aus ermüdenden Videomeetings berichten können, in denen sich niemand zu Wort meldete, Unzählige sich ohne eingeschaltete Kameras hinter grauen Kacheln verbargen und es eben keine Funken sprühende Diskussionskultur gab.

Digitale Gruppen-Meetings sind in der Regel alles andere als kreativ. Nichts ersetzt das gemeinsame Nachdenken bei physischer Anwesenheit aller Beteiligten in einem Raum. Gerade wenn die Lösung noch offen ist, muss man die Luft und das Atmen im Raum hören können. Und, ja, das Rascheln von Papieren auch. Und gern auch das Klappern von Tastatur-Eingaben. Auch Schweigen gehört dazu - viel leichter auszuhalten, wenn man in einem Raum zusammensitzt als in einem virtuellen Raum. Das Nachdenken im gemeinsamen Gespräch. Das Schweigen im gemeinsamen Gespräch. Die Stille, wenn man gemeinsam die Phantasie laufen lässt. Dies alles kann Neues erst wirklich freisetzen.

Der große Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun wurde einmal gefragt, was er von Feedback halten würde. Er meinte, dies sei eine feine Sache - wenn es eingebettet sei in ein Gespräch, in dem die Suche nach der Wahrheit zu zweit beginne. Kann sich irgendjemand die Umsetzung dieser Einsicht im virtuellen Raum vorstellen? Ich nicht! Ich glaube viel mehr daran, dass es die persönliche, physische Face to Face-Begegnung ist, die den Diskurs ermöglicht, die Phantasie und Kreativität freisetzt. Die Raum für Kritik bietet. Die das Wahrnehmen kritischer Untertöne möglich macht. Die das Verstehen von Unausgesprochenem ermöglicht. Das Sich-Öffnen für Neues. Den Beginn von Vertrauen. Das Verstehen und das Verständnis für die Andersartigkeit des anderen.

Gerade jetzt, in Zeiten der abebbenden dritten Corona-Welle, sollte doch gelten: Es ist an der Zeit, wieder mehr Begegnung, Arbeit, Lernen und Unterricht in Präsenz zu ermöglichen. Und es ist nicht die Stunde, die menschliche Begegnung aus vermeintlich ökonomischen und vorgeblich hygienischen Gründen weitgehend in die digitale Virtualität zu verschieben.

Markus Kiefer

(Kolumne von Prof. Dr. Markus Kiefer vom 1. Juni 2021 auf www.markus-kiefer.eu)

 

 

Erschienen am 01/06/2021 08:45
von Markus Kiefer
in der Kategorie : Auf den Punkt
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