Fernseh-Sondersendungen - über die Störung und Entstörungen des Publikums

Fernsehsendungen wie "ARD Spezial" Und der "Brennpunkt" im ZDF sind Premium-Produkte des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Was ist ihre genaue Funktion, wann kommen sie zustanden, unter welchen Gesichtspunkten werden sie produziert?

Ein Fachbuch über Sondersendungen im deutschen Fernsehen - und seine Veröffentlichung könnte kaum besser getimed sein! Denn in Pandemiezeiten machen die Fernsehsender gefühlt ja jeden zweiten Tag eine Sondersendung, einmal über politische Beratungen über Lockdown und Öffnungen, einmal über die Wirksamkeit von Impfstoffen oder deren Lieferengpässe. 

Die Forschung zu dieser Veröffentlichung stammte allerdings aus Vor-Corona-Jahren. Die Professoren Andreas Dörner (Medienwissenschaft, Universität Marburg) und Ludgera Vogt (Soziologie, Bergische Universität Wuppertal) analysierten im Rahmen einer von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Studie Sondersendungen von ARD und ZDF im Zeitraum 2015 und 2016. Schwerpunkt der Analyse waren die Formate "ARD-Brennpunkt" und "ZDF spezial", die in der Regel im Anschluss an die Hauptnachrichtensendungen ausgestrahlt werden. Es gibt auch noch weitere Formen von Sondersendungen, sowohl bei den Öffentlich-Rechtlichen als auch den Privaten. Diese werden in dem Band auch beachtet, aber die Analyse konzentriert sich auf die beiden genannten, da auch häufigsten Formate. In den beiden Untersuchungsjahren bestimmten brisante Themenlagen die Tagesordnung wie beispielsweise die Staats-Schuldenkrise Griechenlands, sog. "Flüchtlingskrise" oder aber spektakuläre punktuelle Ereignisse wie der vorweihnachtliche Terroranschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz. 

Bei solchen Anlässen verändern und erweitern die Fernsehsender ihr Programm. Auf zusätzlich eingerichteten Programmplätzen werden diese Themen dann in ganz eigenen Formaten aufwändig und mit höchstem Einsatz journalistischer Ressourcen weit intensiver bearbeitet und ausgeleuchtet als in den Nachrichtensendungen zuvor, Neue Aspekte, Vertiefungen, Einordnungen finden statt. Somit leisten diese Sendungsformate zweierlei. Sie zeigen dem Publikum eine bedeutsame Störung an. Zugleich leisten sie aber in ihren Sendungen auch eine "Entstörung" des nunmehr hoch beunruhigten Publikums, Letzteres mit unterschiedlichen Mitteln. Diesen Doppel-Auftrag von Fernseh-Sondersendungen arbeiten die beiden Sozialwissenschaftler eindrucksvoll heraus. Dabei arbeiten sie in ihrer Studie mit einem Mehr-Methoden-Design.  Dabei arbeiten sie im soziologischen Kontext von Goffman's Rollen-Theorie, mit "Vorderbühne" und "Hinterbühne". Andreas Dörner und sein Team übernahmen die Erforschung der "Hinterbühne". Sie führten leitfadengestützte Experten-Interviews zu den Selbst-Einschätzungen der Rollen der beteiligten Redakteure, Moderatoren, Politiker und Experten. 

Hierfür gewannen sie auf allen Seiten Höchstkaräter wie beispielsweise die Chefredakteure Jörg Schönenborn (WDR) oder Siegmund Gottlieb (BR), den langjährigen Bundestagsexperten Wolfgang Bosbach oder Bayerns Innenminister Joachim Herrmann, die prominenten Ökonomen Marcel Fratzscher und Clemens Fuest und viele andere mehr (40 selbst geführte Interviews plus Auswertung 5 weiterer bereits andernorts veröffentlichter sog. Feld- Interviews). Markante Wortlaut-Zitate der Genannten und anderer reichern die Darstellung der Ergebnisse später in besonderer Weise an. Ludgera Vogt und ihr Team erforschten die (sichtbare) "Vorderbühne". Sie analysierten dann per medienwissenschaftlicher Analyse die Sendungen selbst (insgesamt 164, wovon 64 in das Kern-Sample des Projekts eingingen. Die Analyse zielte auf Bild und Text (aufgezeichnete Ablaufprotokolle und Aufzeichnung des audiovisuell Ausgestrahlten incl. vollständiger Wiedergabe aller gesprochener Texte und gezeigter Texte, wie beispielsweise eingeblendeter Überschriften und Unterzeilen bei Filmen und Studiodesigns). Per Triangulation werden diese Daten dann zusammengeführt und von Dörner und Vogt interpretiert. Danach werden sie in fünf Fallstudien genauer betrachtet (Kapitel 7: Griechenland-Debatte, Flüchtlingskrise, Breitscheidplatz, Wetter-Sondersendungen, Staatsakt 70 Befreiung KZ Auschwitz). 

Dabei betreten die beiden Forscher Neuland. Denn obwohl diese Sondersendungsformate seit langer Zeit den Bildschirm bereichern, waren sie bislang nicht Gegenstand ausgewiesener Forschung.

Umso interessanter sind die vorgelegten Ergebnisse. Diese lassen sich auch als wertvoller Beitrag zur Fake News-Debatte lesen. Einige ausgewählte seien hier angesprochen. In Kapitel 3 (Produktion von Sondersendungen) können die Autoren (Mathes, Vogt) beispielsweise aufzeigen, wie komplex allein die sendungsinternen Entscheidungsprozesse zum Pro- und Contra der Ansetzung einer Sondersendung sind und wie viele Verantwortliche mit daran beteiligt sind - mit unterschiedlichen Interessen von perspektiven, von den Redakteuren bis hin zu Chefredakteuren und Programmdirektoren. In der Öffentlichkeit herrscht sicher der Eindruck vor, es kämen immer dieselben (wenigen) vor der Kamera zu Wort. Und der Eindruck trügt nicht. Hier wird erklärt, warum. Denn es gelten die Kriterien: Kameraerfahrung, Verständlichkeit im Ausdruck, Bekanntheit, (hoher) Status. In dieses Raster passen eben auch nicht unbegrenzt viele, von der Kompetenz der ebenfalls denkbare (unbekanntere) Gesprächspartner. Insgesamt zeigt sich hier das Bild eines arbeitsteiligen, hoch routinierten Prozesses, unter hohem Zeitdruck, aber mit dem Einsatz des besten journalistischen Know Hows, dass die Öffentlich-Rechtlichen zu bieten haben.

Kapitel 4 (Mathes/Vogt) bringt spannende Aspekte, über das Rollen-Selbstverständnis der Beteiligten Journalisten und Moderatoren, die versuchen, über präzise Information hinaus Mehrwert zu den Nachrichten zu bringen, durch Erklärung, Einordnung bis hin zu gemeinschaftsbildenden Akten (Trost, Zuversicht, Ausdruck von Hoffnung). Gerade der letztgenannte Aspekt, der manches Mal sogar therapeutische Züge annehmen kann, man manchen Leser überraschen. Aber er erwies sich geradezu als ein Spezifikum dieser Fernseh-Sondersendungen. Und es ist ein wesentliches Charakteristikum. Denn in dieser Funktion signalisieren die Sender den Zuschauern das beruhigende Gefühl: die Störung ist zwar da, sie ist auch massiv, aber deren Entstörung ist im Gange. Das Problem wird bearbeitet, die Herausforderung ist zu meistern. Politiker, die in verschiedenen Rollen auftreten, zwischen denen sie auch wechseln können (Volksvertreter, Staatsmann, Parteivertreter, Partei-Abweichler, Kommunikator; Vermittler exklusiven Wissens, Beurteiler, Krisenmanager, Lokalpolitiker als Kümmerer vor Ort. Wissenschaftler als Experten, die - ohne Parteinahme - je nach Situation als Informationsgeber, Aufklärer, Vermittler/Übersetzer von komplexen Sachthemen, Repräsentant einer wichtigen Einrichtung agieren. Die Sendungsauswertungen in Kapitel 6 (Fischer, Mathes) bestätigen diese Ergebnisse im Wesentlichen. Kapitel (Dörner, Fischer, Wolf) bringt eindrucksvoll die Analyse der Sondersendungen aus 2015 und 2016, wobei 71 von 71 "ARD-Brennpunkte" und 83 von 93 "ZDF-Spezial" erfasst sind. Die dramaturgische Grundstrukturen und die eingesetzten Gestaltungsmittel, im Grunde genommen recht ähnlich, werden als im Grundschema deutlich. Die Übereinstimmung beider Formate zeigen sich in vier Punkten:

  1. Für beide Formate sind "Sollbruchstellen" im Programm direkt nach den Hauptnachrichten vorgesehen.
  2. Beide verfügen über ein einheitliches visuelles Design und einen festen Moderatorenstab.
  3. Beide erweitern das Nachrichtenfernsehen um reportageähnliche Gestaltungsmittel und eine bestimmte Dramaturgie mit aufeinander abgestimmten Sendungselementen.
  4. Inhaltlich fokussieren beide vor allem Hintergründe, auch historische Entwicklungen, diskutieren Lösungswege und bieten eine journalistische Form der Verarbeitung schwerer Störungen (vgl. 130/131).

Gerade die relative Gleichförmigkeit vieler Sendungen kann das erfüllen, was stets die Leistung eines funktionierenden Schemas ist: die Wiederholung und vertraute Elemente schaffen beim Zuschauer en zumindest ansatzweise entstehendes Gefühl von Sicherheit, von Beruhigung. Die Störung wird - in gewohnter Weise - bearbeitet. Und zumeist wurde sie in der Vergangenheit ja dann auch erfolgreich beseitigt. 

Interessantes und durchaus brisantes Ergebnis bei den erwähnten Fallstudien (jeweils Dörner/Vogt oder gemeinsam mit Mitarbeiterinnen/Mitarbeitern): teilweise Abweichung von der Selbsteinschätzung in den Interviews! Hier zeigt sich die Fruchtbarkeit der Triangulation. Manches wurde erst durch die Konfrontation der Daten aus den Interviews mit denen aus den Sendungsanalysen offenbar. So beispielsweise die Rolle des reinen Sachpolitikers, der mit Kompetenz und ohne parteipolitische Konfrontation punktet. Diese Rolle war in den Interviews gar nicht präsent, aber in den Auftritten mancher Politiker in den Sendungen sehr markant. 

Problematisch dagegen ist eine andere Erkenntnis aus der Triangulation. In der Selbstauskunft der Experten-Interviews war völlig verdeckt, was sich in der Auswertung der Sendungsdaten hingegen sehr deutlich zeigte: unübersehbare Züge dessen, was der erfahrene Publizist und Medienwissenschaftler Michael Haller "moralischen Belehrungsjournalismus" benannt hat. In der Debatte um die griechischen Staatschulden wurde in auffällig vielen Sendungen ganz offen die Position der griechischen Regierung (einseitig) unterstützt. Gerade in der Flüchtlingsdebatte wichen Sondersendungen auffallend von Anspruch des reinen Transporteurs sachlicher Information, vom Standpunkt des neutralen, unparteiisch-objektiven Berichterstatters ab und nahmen, teilweise in deutlich auffälliger Weise moralisch-belehrend Partei (zugunsten der Betroffenen). 

Dörner und seine Mitarbeiter fällen hier, im Ergebnis ihrer Analyse, ein sehr deutliches Urteil: "In den vorangegangenen Analysen wurde deutlich, dass die Redaktionen in keiner der drei konstruierten Phasen die von ihnen laut Rundfunkstaatsvertrag eigentlich geforderte neutrale und ausgewogenen Berichterstattung geleistet haben. Bewertungen und Stellungnahmen wurden nicht jeweils als Kommentare kenntlich gemacht, sondern sie durchziehen die gesamte Berichterstattung der analysierten Sondersendungen. In unterschiedlicher Intensität, aber insgesamt durchgehend ist der Diskurs über die Ereignisse meinungsjournalistisch eingefärbt und enthält immer wieder explizite wie implizite moralische Bewertungen und Appelle und Handlungsanweisungen für das Publikum. Das verwendete Bild- und Bewegtbildmaterial unterstützt mit seinem emotionalisierenden und appellativen Potential das, was von den Akteuren vor den Kameras oder aus dem Off gesagt wird. Eine klare Trennung von neutraler Berichterstattung und wertenden Kommentaren, wie das im Rundfunkstaatsvertrag gefordert wird, fand nicht statt" (S. 280). 

Ein harsches Urteil, das die Autoren aber zuvor genauestens empirisch belegen können. Sie räumen ein, dass es gute Gründe für eine solche moralische Haltung geben könne (Fremdenfeindliche Positionen im Land etc.). Zugleich weisen Dörner et al. aber auch auf das Problem hin, wenn durch genau eine solche Haltung Medien-Vertrauen in weiten Teilen der Bevölkerung Schaden nimmt, wenn eine Bevölkerung dagegen nämlich in Wirklichkeit primär informiert und nicht moralisch belehrt werden möchte. Und die entsprechende Unzufriedenheit mit der Medienberichterstattung zeigte sich ja auch deutlich und mehrheitlich bereits 2015, beispielsweise in Allensbach-Umfragen zu Medienberichten in der Flüchtlingskrise (vgl. S. 282)

Das ist natürlich ein markantes Problem im Zusammenhang der oft diskutierten Glaubwürdigkeitskrise der Medien, die sich bereits in vielen Studien gezeigt hat (Edelman Trust Barometer, Mainzer Langzeitstudie Medienvertrauen, BR-Publikumsstudie Studie 2016 u.a.). Wenn Medien in weiten Teilen der Gesellschaft nicht mehr als Kontrolleure der Mächtigen gesehen werden, sondern als ihre Unterstützer, dann ist das Medien-Korrektiv als "Vierte Gewalt" faktisch an sein Ende gelangt. Eine übergroße Homogenität des Journalismus und seiner Flaggschiff-Sendungen birgt die Gefahr des Eindrucks von Mainstream-Journalismus. Ein Mainstream-Journalismus, der den Meinungs-Korridor zu eng macht, mit den immer gleichen und auch noch relativ wenigen Akteuren aus Journalismus, Politik und Wissenschaft. 

Dörner und Vogt problematisieren das in ihrem abschließenden gemeinsamen Beitrag. Sie zeigen ebenso deutlich wie eindrucksvoll auf, welches Potential gerade diese Sondersendungen als Premium-Produkte der Öffentlich-Rechtlichen aber auch zukünftig haben könnten, um die Legitimation des gebühren-finanzierten Rundfunks und Fernsehens längerfristig abzusichern - wenn dort ein eine herausragende journalistische Qualität in verlässlicher Unparteilichkeit geboten wird. Eine aus Sorgfalt und Objektivität gespeiste Objektivität, die all die zwielichtigen und interessegeleiteten Nachrichten-Angebote im Internet mit ihrer Mixtur aus halbgaren Infos, Zweideutigkeiten, Manipulationen, Halbwahrheiten und Lügen locker aus dem Feld schlägt. Ein öffentlich-rechtlicher Qualitäts-Journalismus wäre gefordert, so Dörner und Vogt, der diese Internet-Nachrichtenlagen sogar in seinen Sendungen dezidiert einbezieht, diese offensiv aufgreift und dann mit seinen Möglichkeiten dem Publikum zeigt, was wirklich Sache ist. Genau das wäre wohl der Auftrag solcher Sondersendungen, nämlich gerade in gesellschaftlichen Störungssituationen präzise, differenziert, ausgewogen und in einem möglichst breiten Meinungskorridor berichten. Dann wäre die Sondersendungen von ARD und ZDF wohl unschlagbare Leitmedien. Aber eben auch nur dann. Die vorliegende Studie hat aufgezeigt, dass ARD und ZDF alle erforderlichen Ressourcen, Talente und Möglichkeiten haben. Sie sollten sie noch konsequenter und noch sorgfältiger nutzen als dies in den hier geschilderten Fallstudien aufgezeigt wurde, zum Teil mit bedenklicher Tendenz. Es bleibt späteren Forschungen vorbehalten, ob die zahlreichen Corona-Sondersendungen der Gegenwart diesem Maßstab gerecht werden konnten.

 

Markus Kiefer

(Kolumne von Markus Kiefer vom 15. Juni 2021 auf www.markus-kiefer.eu)

 

Empfehlung

Andreas Dörner/Ludgera Vogt (Herausgeber), Mediale Störungen. Krisenkommunikation in Sondersendungen des deutschen Fernsehens, Springer VS, Wiesbaden 2020, 362 S., ISBN 978-3658-28045-1, Euro 49,99

 

Erschienen am 15/06/2021 08:48
von Markus Kiefer
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