Grandios einseitig - ein Verriss der zeitgeistigen Werbekampagnen aus markensoziologischer Sicht

Der renommierte Markensoziologe Oliver Errichiello publiziert eine heftige Philippika gegen die immer stärker politisierende Konsumentenwerbung.

Wenn ein so renommierter Markensoziologe wie Oliver Errichiello sich die zeitgenössische Werbung dermaßen kritisch zur Brust nimmt, wie es schon der Untertitel seines aktuellen Buches induziert ("Wenn bunte Kampagnen in Wirtschaft und Politik die Wirklichkeit ignorieren"), dann lohnt der genauere Blick. Der an den Hochschulen von Mittweida , Hamburg und Luzern lehrende Professor ist Markenexperte und hat bereits eine ganze Reihe einschlägiger Publikationen vorzuweisen, in denen er wissenschaftliche und empirische Expertise mehr als genug vorzuweisen hat.

Das vorliegende Buch ist aber nicht das Ergebnis empirischer Forschung. Es ist ein sehr subjektives Buch, das aber aus einem reichen Schatz an Erfahrung geschrieben ist, gewonnen aus vielfacher Beobachtung und auch eigener Beratungspraxis von Unternehmen und politischen Institutionen. Heraus gekommen ist ein drastischer Verrissder gegenwärtig vorherrschenden Werbepraxis. Getrieben von Agenturen, die den beauftragenden Unternehmen immer stärker zunehmend politische Positionen in die Kommunikation platzieren. Auffallend weg von der eigentlichen Produkt-Kommunikation und immer mehr hin zu Purpose, Sinn-Fragen, Gesellschaftsbezügen und Positionierung in politischen Debatten. Mit wuchtigen Statements zu Klimaschutz, Gendern, Diversity. Als Treiber sind die großen Agenturen ausgemacht, deren Zusammensetzung auf Mitarbeiter-Ebene uniform ist: jung, urban, kosmopolitisch, örtlich mobil und flexibel, politisch mehrheitlich im grün-alternativen Milieu zu Hause. Aber damit alles andere als ein Spiegelbild der soziologischen Zusammensetzung der Gesamtgesellschaft. Spiegelt das wirklich den Alltag der mehrheitlich hart arbeitenden und ihren Lebensalltag oft nur knapp meisternden Bevölkerungsmehrheit? Sehen das die beauftragenden Unternehmen scharf genug, fragt der kundige Konsumpsychologe? Und, so bohrt er weiter, mit welchem Mandat eigentlich ergreifen Unternehmen mit ihren Werbestatements zunehmend politisch Partei? Sind sie wirklich gut beraten, die Eigenschaften ihrer Produkte zunehmend weniger zu bewerben als ihre (gesellschafts-) politische Haltung? 

Selbstverständlich kennt Errichiello alle Entwicklungsstufen des Marketing und er weiß natürlich, dass und warum eine stärkere Bild-Orientierung und emotionale Markenpositionierung in der Werbung zulasten von informierender Textinformation stattgefunden hat. Allerdings erlaubt er sich die kritische Reflexion dieser Entwicklung und fragt, nachdenklich machend, wohin das noch führt - und wie weit das alles vom normalen Mainstream der Bevölkerung und der Konsumenten überhaupt getragen und erwünscht ist. Und es ist so sehr Mode und Mehrheits-Meinung geworden, Milton Friedman zu verteufeln, dass es fast schon wieder wohltuend ist, einen deutschen Hochschullehrer wohlwollend über den Grundansatz des Chicagoer Gelehrten schreiben zu sehen. Der Zweck von Business ist Business. Und nur ein gutverdienendes Unternehmen, das erfolgreich seine Produkte und Dienstleistungen bewirbt und vertreibt, wird seinen Mitarbeitern anständige Löhne zahlen und dem Staat beachtliche Steuern beitragen können. 

Das ist die eine Frontseite der Grundsatz-Kritik von Errichiello. Die andere richtet sich gegen die Politik. Der Autor beschreibt kundig, wie sich diese, beginnend in den späten 90-er Jahren und beeinflusst von den Clinton-Wahlkämpfen der gleichen Agenturen bedient wie die Unternehmen. Und politische Werbung zunehmend weniger am konkreten Parteiprogramm, sondern an Personen und den Resultaten der Markt- und Meinungsforschung ausrichtet. Die politischen Parteien und ihr Spitzenpersonal zunehmend als Marke positioniert, mit den gleichen Mechanismen wie in der Unternehmens- und Konsumwerbung. Mit dem Resultat einer politischen Werbung, die inhaltlich immer mehr ausgehöhlt, beliebig und austauschbar daherkommt. Dies beschreibt der Autor zugespitzt im 5. und letzten Kapitel seines Buches, das er mit diesen fünf provokativen Thesen einleitet, die zugleich seine Fundamentalkritik der gegenwärtigen Werbepraxis in den voraufgegangenen Kapiteln zusammenfassen und auf den Punkt bringen:

 

"Die zeitgenössische Werbung orientiert sich vornehmlich an der Wirklichkeit junger Menschen.

Die zeitgenössische Werbung glaubt an die Überzeugungskraft universeller ethischer Wertvorstellungen, unabhängig von Marke, Segment und Produktgruppe.

Die zeitgenössische Werbung setzt Kundenabsichten mit Kundenverhalten weitgehend gleich.

Die zeitgenössische Werbung wird von einer gut gebildeten, weltläufigen und finanziell weitgehend abgesicherten Elite erdacht und gestaltet.

Die zeitgenössische Werbung begreift als Erfolgsparameter kurzfristige Aufmerksamkeit statt langfristiger Wirtschaftlichkeit." (S. 205)

 

Das alles ist grandios einseitig argumentiert. Beides. Einseitig im Argumenten-Vortrag, aber sprachlich-gedanklich radikal und grandios. Und keineswegs allein aus dem Bauch geschrieben, sondern mit einem Anmerkungsapparat von 129 wertvollen Quellenhinweisen gut belegt. Allemal Stoff für eine selbstkritische Bestandsaufnahme nicht nur auf der Seite der werbetreibenden Wirtschaft, sondern speziell im Zeitraum der weichenstellenden Landtagswahlen im deutschen Herbst 2024. 

Markus Kiefer

(Kolumne von Markus Kiefer vom 15. Oktober 2024 auf www.markus-kiefer.eu)

 

Empfehlung
Oliver Errichiello, Werbung für den Zeitgeist. Wenn bunte Kampagnen in Wirtschaft und Politik die Wirklichkeit ignorieren, Langen Müller Verlag, München 2023, 237 S., ISBN 978-3-7844-3683-8, 22,- Euro

Erschienen am 15/10/2024 08:57
von Markus Kiefer
in der Kategorie : Für Sie gelesen
Teilen :