Kein U für ein X eintauschen - sollen wir X (Twitter) jetzt boykottieren?
Immer mehr Unternehmen und Organisationen wenden sich von der Social Media-PLattform X, ehemals Twitter, ab. Ist das der richtige Weg?
Die Anzeichen mehren sich. Und sie werden häufig auch öffentlich artikuliert. Immer mehr Unternehmen und Organisationen, aber auch prominente Einzelpersonen, wenden sich von der Social Media-Plattform Twitter ab, die Elon Musk nach dem Kauf in X umbenannt hat.
Die vorgetragenen Begründungen gehen zumeist in die Richtungen einer zunehmenden Hatespeech, einer Zunahme extremer politischer Positionen und Parteien, einer Verrohung der Debattenkultur. Die Argumente erinnern an diejenigen, mit der sich der jetzige Vizekanzler Robert Habeck vor vier Jahren öffentlichkeitswirksam von der Plattform Twitter komplett abmeldete - nachdem er zuvor einer der eifrigsten Nutzer gewesen war.
Damals wie heute, mich überzeugen diese Argumente nicht. Ganz im Gegenteil, ich halte sie aus der Perspektive eines professionellen Kommunikationsmanagers für unangemessen. Erst recht, wenn dann in vielen Fällen vorgetragen wird, man könne die Positionen seines Arbeitgebers heute besser im LinkedIn-Umfeld artikulieren. Klar, da wird natürlich nicht der rhetorische Säbel geschwungen, sondern das elegante Florett.
Aber im Grunde genommen, machen sich diese Kommunikationsmanager einen schlanken Fuß und sich die Sache zu einfach. Denn Hatespeech, Diskriminierung, rohe Sprache - X ist doch nicht die einzige Social Media-Plattform, wo dies krass in Erscheinung tritt. Man muss nur am Wochenende einmal in die Social Media-Accounts der 1., 2. und 3. Fussball-Liga gehen und sich anschauen, wie die Fans offen die Trainer, Spieler, Clubverantwortlichen nach schlechten Auftritten angehen. Jede Woche. Von Menschenwürde und Respekt bleibt da nicht mehr viel übrig. Man frage weiterhin einmal Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene nach ihren Erfahrungen auf Snapchat, Tiktok oder Twitch. Und diese Fragen werden ja professionell gestellt. Ungefähr jede und jeder zweite berichtet von heftigen Mobbing-Erfahrungen. Selbst auf der Bild-Ästhetik-Plattform Instagram müssen Jugendliche und Erwachsene schon sehr resilient sein, wenn sie ihre Mode- und oder Fitness-Bilder posten und dann teils heftige Kritik, Spott, Hass und Zynismus ernten. Das alles passiert. Es ist ja durchaus noch zu verstehen, wenn sich die Antidiskrimierungsstelle des Bundes von X abmeldet, wie bereits geschehen. Aber, sollen Unternehmen und große Organisationen jetzt wegen dieser beschriebenen Tendenzen folgen? Bei ehrlicher Bestandsaufnahme: Dann müssten sie im Grunde nicht nur X, sondern auch all diese anderen populären und reichweitenstarken Social Media meiden oder gar boykottieren.
Klar, es ist verlockend und elegant, auf neue Social Media-Plattformen einzusteigen, die in der Twitter-Imitation inzwischen entstanden sind, zum Beispiel Bluesky, Mastodon, Threads. Abner das ist ja alles Experimentierphase. Und die anderen Plattformen haben den Vorzug der immensen Reichweite, die über Jahre hinweg aufgebaut wurden.
Ein weiteres Gegenargument gegen den Rückzug von X soll abschließend genannt sein. Es war schon ein Missverständnis, Social Media in erster Linie als einen weiteren, modernen Kanal für das Artikulieren der eigenen Position anzusehen. Social Media war von der Idee immer mehr als das. Zuhören, Hinhören, Trends aufspüren, Debatten verfolgen, in Debatten eingreifen, und dann aktiv werden und mitmachen. Social Media sind ihrer Funktion nach mindestens ebenso sehr Hörrohr wie Sprachrohr. Immer Grunde genommen sogar: Zuerst immer Hörrohr.
Es ist für Unternehmen und Organisationen fundamental, dass sie im Netz Stimmungen und Trends aufspüren. Frühzeitig. Gerade mit Blick auf negative Äußerungen und Kritik. Ja, manchmal kommt das kübelweise. Unternehmen mit Erfahrungen in der Krisenkommunikation wissen das sehr gut. Die Welt der großen Unternehmen und Organisationen steht heute mehr denn je im öffentlichen Scheinwerferlicht. Und dabei kommt eben häufig und Ungerades, Unschönes, Ungereimtes zutage. So ist das eben. Und professionelle Kommunikationsmanager können das erstens aushalten. Und zweitens wissen sie es auch zu schätzen, möglichst früh solche Anti-Stimmungen aufzuspüren. Denn das ist Voraussetzung, um gekonnt kommunikativ gegenzusteuern. Gerade in dieser Perspektive ist das vorschnelle Preisgeben von Präsenz, von Aktivitäten und Stimmungs-Beobachtungen auf X - oder auf anderen Social Media mit den geschilderten Begleiterscheinungen, weder klug noch professionell. Es ist eine voreilige und billige Fahnenflucht. Kommunikations-Profis machen so etwas nicht. Sie wissen, dass sie mit und für ihre Unternehmen auch da sein müssen, wo es weh tut.
Markus Kiefer
(Kolumne von Markus Kiefer vom 1. Februar 2024 auf www.markus-kiefer.eu)