Nicht Defizite lindern - Stärken ausbauen!

Martin Seligman, Mit-Begründer der weltweit diskutierten sogenannten Positiven Psychologie, über die Geschichte der Weiterentwicklung seiner ursprünglichen Glücks-Theorie.

Das Urteil über dieses hier anzuzeigende Buch eines Wissenschaftlers von Weltrang - der sich aber selbst als Außenseiter versteht - hängt letzten Ende vom eigenen Werturteil über die Leistung der klinischen Psychologie in Praxis und Hochschul-Wissenschaft ab. Die meisten werden wohl die Hilfestellung für Menschen in emotionalen Schieflagen, entweder durch Medikamente oder durch Gesprächstherapie oder durch eine Kombi von beidem, als einen echten Segen empfinden. Martin Seligman, der zu den Mitbegründern der wissenschaftlichen Ausrichtung der sogenannten Positiven Psychologie gehört, ist das nicht genug. Psychologie muß seiner festen Überzeugung nach mehr bieten als das Mindern von Leid, als das nur punktuelle und auch nur zeitweise Lindern oder Abschwächen von Symptomen. Symptome, die wieder zurückkehren, wenn Medikamente abgesetzt werden oder die Sitzungen mit dem Therapeuten länger zurück liegen.

Was wäre, so fragte und fragte Seligman bis heute, wenn wir uns als Psychologen weniger mit den Schwächen der Menschen als mit Ihren Stärken befassen und alles dafür tun, diese auszubauen? Das ist der Grundansatz der Positiven Psychologie, die inzwischen weltweit an Bedeutung gewonnen hat. Und für die nicht nur allen Seligman steht. Namen wie Barbara Fredrickson (USA) oder Nico Rose (Deutschland) seien nur beispielhaft für viele andere genannt, die in den letzten beiden Jahrzehnten an Bedeutung und Wirksamkeit gewonnen haben. Dabei standen die Vertreter dieser Denk-Richtung in vielen Hochschul-Fakultäten sicher erst einmal abseits vom Kollegen-Mainstream, mit Schwerpunkten in der Emotions- oder Wahrnehmungsforschung. Von diesen Auseinandersetzungen und Kämpfen in Hochschulen berichtet dieses Buch auf interessante Weise. Seligman war Zeit seines Berufslebens an der Universität von Pennsylvania tätig, seit 2005 als Psychologie-Professor. Dort ein Außenseiter, wenn auch zunehmend geachtet. Es brauchte seinen Weg, bis er (1996), zum Präsidenten der American Psychological Association gewählt wurde - übrigens mit der höchsten jemals erreichten Zahl an Stimmen.

Der heute 82-jährige Seligman hat weltweite Bedeutung erlangt, als Depressionsforscher sowieso und dann insbesondere durch seine Theorie der erlernten Hilflosigkeit (verkürzt: Menschen fügen sich nach negativen Erfahrungen ihrem Schicksal bei Wiederholungen ohne Gegenwehr) und durch seine zunächst als Glücks-Theorie bezeichneten Forschungsergebnisse (in Deutschland wurde der Welt-Bestseller unter dem Titel "Der Glücksfaktor" 2003 veröffentlicht. Seitdem hat der Autor seine Theorie verändert und erweitert. Davon handelt das hier zu rezensierende Buch, veröffentlicht in siebter Auflage 2023. Heute nennt Seligman seinen Ansatz nicht mehr Glücks-Theorie. Sicherlich auch um (weiteren) Angriffen und Verdächtigungen aus dem Weg zu gehen, hier werde eine letztlich unwissenschaftliche Glücks-Philosophie vertreten und in eine "Bewegung" oder gar Sekte verwandelt. Tatsächlich beruhen seine und die Forschungen seiner Kolleginnen und Kollegen auf empirischer Forschung, auf klassischen Fragenbögen, Tests und Interviews. Und die Liste seiner Auftraggeber bzw. Forschungsförderer ist lang und beeindruckend, u.a. Annenberg Foundation, US- Erziehungsministerium, US-Verteidigungsministerium (vgl. S. 376) 

Heute nennt Seligman seinen Ansatz die "Theorie des Wohlbefindens". Diese basiert auf fünf Elementen: Positive Gefühle - Engagement (für jemanden/etwas) - Verfolgen und Erreichen von Zielen - positive Beziehungen - (Streben nach) Sinn. Sind diese Elemente stark ausgeprägt, dann erreichen Menschen den Zustand des "Flourish" (Buchtitel), sie blühen regelrecht auf, bewegen sich, denken, verhalten sich auf der Grundlage ihrer Stärken und ihrer wesentlichen Charaktereigenschaften: "... sodass meine Kriterien für Flourishing wären, dass man sich im oberen Bereich der positiven Gefühle, des Engagements, des Sinns, der positiven Beziehungen und der positiven Leistung befindet" (S. 335/336). Und hier liegt die Erweiterungen gegenüber dem ursprünglich verfolgten Glücks-Ansatz, da Glück eben nun mal ein ganz subjektives Ziel ist, ohne objektive Messkriterien. Die spätere Erweiterung seiner Theorie vor allem durch die Komponenten Positive Beziehungen und Zielerreichung ändert das jedoch: "Positive Beziehungen, Sinn und Zielerreichung haben sowohl objektive als auch subjektive Komponenten: Es geht nicht nur darum, wie Sie sich mit ihren Beziehungen fühlen, sondern auch darum, wie sich die anderen mit Ihnen fühlen. Es geht nicht nur darum, dass Sie selbst ein Gefühl von Sinn haben (Sie könnten einer Illusion aufsitzen), sondern es geht um das Ausmaß, indem Sie zu etwas gehören und tatsächlich einer Sache dienen, die größer ist als Sie selbst. Es geht nicht nur um ihren eigenen Stolz auf das, was Sie getan haben, sondern ob Sie tatsächlich ihre Ziele erreicht haben und welche Auswirkungen diese Zielsetzung auf die Menschen, die Ihnen wichtig sind, und auf die Welt als Ganzes haben" (S. 336).

Seligman zeichnet in seinem Buch nicht nur die Forschungsgeschichte und die sich ergebenden Kontroversen spannend nach, alles reichlich belegt in einem 60 (!)-Seitigen Anmerkungsapparat. Er zeigt auch das Gefragtsein seiner Theorie in verschiedenen Praxisfeldern. Besonders fruchtbar wurde sein Ansatz in der Arbeit, in Trainingsprogrammen mit den amerikanischen Streitkräften (nachgezeichnet in den Kapiteln 7 und 8). Ein Weg, der von der viel zitierten Posttraumatischen Belastungsstörung von rückkehrenden Soldaten (Depression, Suizidgefahr, gescheiterte Beziehungen) zum therapeutischen Aufbau von posttraumatischem Wachstum führt. Das hat viel mit dem Aufbau von Resilienz und dem Ausbau von vorhandenen (Charakter-) Stärken zu tun. Allein diese beiden Kapitel müssten eine Motivation zur Lektüre bei weitsichtigen Personalverantwortlichen in Streitkräften und Sicherheitsorganen auslösen!

Aber auch die Personalverantwortlichen anderer Branchen werden hier eine inspirierende Lektüre für die grundsätzliche Ausrichtung ihrer langfristigen Arbeit finden. Letztlich ist es eine Frage des Menschenbildes, ob man sich auf den Weg der Positiven Psychologie wagen will oder nicht. Glaubt man an einen Menschen, dem man oder der sich selbst etwas zutrauen will, der Verantwortung übernimmt und mutig neue Wege gehen und bestehen kann? 

Und ein Bild vom Menschen, der um seine Schwächen weiß, aber vor allem seine Stärken im privaten und beruflichen Leben bewusst einsetzt. Seligman hat hierfür, gemeinsam mit anderen Kollegen, einen prominent gewordenen Test entwickelt, den sogenannten Charakterstärken-Test. Dieser fragt 24 Dimensionen und Ausprägungen ab und misst diese. Im Ergebnis bekommt man in der Regel ein Selbst-Bild von bis zu fünf erkennbaren Stärken (und ebenso von Schwächen). Diese zwei Dutzend Dimensionen kann man clustern in Fragen nach: Weisheit/Wissen, Mut, Menschlichkeit und Liebe, Gerechtigkeit, Mäßigung, Transzendenz. Die Kompaktfassung des Tests, knapp und gut ausreichend erläutert, ist im Angang des Buches abgedruckt. Die Langfassung gibt es auf der Seligman-Seite www.authentichappiness.com

Mit diesem Buch lässt sich also auch arbeiten, individuell oder im Einsatz des Fragebogens im Personalwesen. Inspirierendes Lesevergnügen und forderndes Arbeitsbuch in einem!

Markus Kiefer

(Kolumne von Markus Kiefer vom 15. August 2024 auf www.markus-kiefer.eu)

Empfehlung

Martin Seligman, Flourish. Wie Menschen aufblühen. Die Oositive Psychologie des gelingenden Lebens, Kösel, München 7. Auflage 2023, 473 Seiten, ISBN 9783466309344, 25 ?

 

 

Erschienen am 15/08/2024 08:55
von Markus Kiefer
in der Kategorie : Für Sie gelesen
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