Philip Kotlers Marketing 5.0
Das moderne Marketing nimmt seine nächste Entwicklungsstufe. Philip Kotler beschreibt es im Buch "Marketing 5.0".
Internet 3.0, Industrie 4.0 und jetzt auch noch Marketing 5.0? Man kann bei diesen Paarungen von Begriffen und Versions-Zählungen durchaus den Überblick verlieren. Und zuweilen den Eindruck gewinnen, manche Etiketten dieser Art werden in der (Fach-) Diskussion zu inflationär verwendet. Aber wenn einer der bedeutendsten Marketingwissenschaftler unserer Zeit, zumal der international vermutlich meistzitierte, ein neues Buch unter entsprechendem Label vorlegt, dürfte ein genauerer Blick doch lohnend sein.
Nun gibt es in der Literatur unterschiedliche Arten, die Entwicklung des modernen Marketings in Schichten und Etappen auf der Zeitschiene zu systematisieren. Bei Philipp Kotler, Professor Emeritus an der Kellog School of Management, geht das so. Marketing 1.0 war die rein produktorientierte Phase. Marketing 2.0 war die Umstellung auf Kundenorientierung. Marketing 3.0 stellte den Menschen an sich mit seinen Werten und Wertorientierungen in den Mittelpunkt. Marketing 4.0 ist der Schritt in die Digitalisierung. Und Marketing 5.0 ist der Sprung in unsere dynamisch-technologische Moderne -, mit all ihren jetzt schon gegebenen Möglichkeiten, den Menschen nachzuahmen und ihm auf dieser Basis, Angebote, Support, Kommunikation zu unterbreiten: "Per definitionem ist Marketing 5.0 die Anwendung von Technologien, die Menschen nachahmen, um auf der Customer Journey Wert zu schaffen, zu kommunizieren, zu übermitteln und zu steigern. Ein entscheidendes Thema im Marketing 5.0 sind die sogenannten 'Next Tech', eine Gruppe von Technologie der nächsten Generation, die die Fähigkeiten menschlicher Experten nachbilden sollen. Dazu gehören KI, NLP, Sensoren, Robotik, erweiterte Realität, virtuelle Realität, IoT und die Blockchain. Eine Kombination dieser Technologien liegt Marketing 5.0 zugrunde" (S. 18). Für die mit den verwendeten Kürzeln nicht ganz so vertrauten Leser: KI steht für künstliche Intelligenz. NLP ist Natural Language Processing und zielt in diesem Buch vor allem auf die Möglichkeiten von Sprachassistenten à la Alexa, Siri und Chatbots etc. IoT steht für Internet of Things, also durch eingebaute Chips gesteuerte und miteinander verbundene, vernetzte und miteinander kommunizierende Geräte und Maschinen.
Die fünf konstituierenden Elemente des Marketing 5.0 sind nach Kotler, Kartajaya und Setiawan:
Datengesteuertes Marketing ("Big Data"),
Vorausschauendes, sogenanntes prediktives Marketing, das die zu erwartenden Kundenreaktionen aufgrund bisheriger, vergangener Interaktionen hochrechnet und in kommende Kommunikations-Akte einbezieht,
Kotext-bezogenes Marketing, das dem Kunden passgenaue Angebote zu der Situation und Konstellation ausspielt, in der er sich gerade befindet,
das sogenannte Erweiterte Marketing, im Zusammenspiel von Technologie, künstlich geschaffener Realität und persönlicher Interaktion von menschlichen Repräsentanten des Unternehmens und zuletzt
Agiles Marketing.
Diese Ansätze werden Schritt für Schritt kapitelweise entfaltet. In einer klaren Sprache, die nicht allzu stark von Fachtermini durchsetzt ist. Das ganze jetzt schon realisierte Spektrum von faszinierenden Marketing-Optionen zeigen Kotler und seine beiden Mitautoren, beides hochkarätige Marketing-Berater, mit einer Fülle beeindruckender Praxisbeispiele aus ganz unterschiedlichen Märkten, Industrien und Branchen auf. Wer mit der Materie nicht ganz so vertraut ist und vieles noch für Zukunftsmusik hält, wofür die genannten Technologien stehen, der wird sich nach der Lektüre die Augen reiben, was es alles schon (teils bereits länger) auf dem Markt gibt. Und zwar in erfolgreicher Verwendung. Zum Beispiel für Virtual Reality (VR): "Toms ist ein Beispiel für eine VR-Anwendung im Marketing, die soziale Wirkung erzielt. Das Unternehmen ist dadurch bekannt geworden, das es für jedes verkaufte Paar Schuhe ein paar Schuhe spendet. Mit Hilfe von VR ermöglicht Toms seinen Kunden, mitzuerleben, wie die Schuhe bei bedürftigen Kindern ankommen" (S. 127). Oder im Zusammenhang von Robotik und Kundenerlebnis aus Asien: "Der Softbank- Roboter Pepper wird in Pflegeheimen zum persönlichen Begleiter und fungiert im Einzelhandel als Verkäufer. Auch Nestlé setzt in Japan Roboter ein, um Kaffee zu kochen, zu verkaufen und zu servieren" (S. 123). Und sogar im Gastronomiesektor, wo der menschliche Faktor so entscheidend ist, finden in den USA Robotik-Experimente im Kontext von persönlichem Service an vielen Stellen statt: "So läuft im Hilton in Virginia ein Pilotprojekt mit dem Roboter Connie. Auf der Grundlage der KI von IBM Watson empfiehlt er Hotelgästen nahegelegene Sehenswürdigkeiten und Restaurants. Im Aloft Hotel in Cupertino ist ein Roboter-Butler im Einsatz: Botlr ist für zusätzlichen Komfort und Zimmerservice für Hotelgäste zuständig. Als Trinkgeld akzeptiert er Tweets" (S. 124). Beispiele dieser Art werden in Fülle ausgebreitet, zumeist aus der amerikanischen Wirtschaft. Zunehmend versteht der Leser auch diesen Aspekt. Marketing 5.0 ist zugleich auch Marktforschung in Echtzeit. Mit der Basis der künstlichen Intelligenz, die immer mehr persönlich und auf die Konstellation abgestimmte Angebote ermöglicht. Nicht zuletzt dieser Aspekt macht die Faszination von Marketing 5.0 aus.
Die Autoren argumentieren generationenspezifisch, was jeweils unterschiedlich durch die Generation der Babyboomer, der Generationen Y und Z vom modernen Marketing wie selbstverständlich an Ansprache-Arten verlangt wird. Und der Leser ahnt, was auf die Unternehmen in der Generation Alpha (geboren nach 2010) zukommt, die sich ein Leben ohne Smartphone gar nicht mehr vorstellen werden können. Und für die es die Grenzen zwischen Online- und Offline-Welten kaum noch geben wird - da sie die Online-Welt für die reale hält. Dabei sind die Autoren nicht blind für die Befürchtungen von Älteren, gegenüber einer zunehmend automatisiert ablaufenden technologischen Welt. Auch in Bezug auf ethische Fragezeichen und Datenschutz. Das wird alles in einem ausgewogenen Kapitel mit fünf Aspekten zugunsten eines Forcierens der Marketing-Technologien und fünf berechtigten Bedenken dagegen ausführlich reflektiert und diskutiert. Ein Buch im Kontext von Fortschrittsfreundlichkeit ohne blinde Fortschrittsgläubigkeit.
Und so mündet die Darstellung von Kotler und seinen Kollegen fast folgerichtig in eine wohltuend sympathische Conclusio als Synthese. Maschinen sind cool, aber Menschen sind herzlich. Marketing 5.0 setzt auf ein Zusammenwirken von beidem. Es sind eben keine Gegensätze, wenn man die zum Teil staunenswerten technologischen Optionen richtig eingeordnet. Die Maschinen und die Technik erledigen künftig die Grundfunktionen der Information und des Erklärens - und Menschen und Personen gehen da ergänzend in die Kommunikation hinein, wo mehr verlangt ist, wo es auch um Gefühle, Emotionen, Werte, Sorgen, Ängste, und im Kern um Aufbau und Pflege einer Kundenbeziehung geht: "Die Rolle der menschlichen Note darf aber auf gar keinen Fall vernachlässigt werden. Denn sie wirkt durch Weisheit, Flexibilität und Empathie als Regulativ für das von der Technologie gebotene Tempo und für ihre Effizienz. Der beispiellose Zugriff auf Wissen und die Zeitersparnis durch Automatisierung ermöglichen es dem Marketing, kreativer zu werden. Maschinen sind zwar zuverlässiger, wenn es programmierbare Arbeitsabläufe geht, doch Menschen mit ihrer Intuition und ihrem Hausverstand sind sehr viel flexibler. Vor allem sind Menschen aber absolut unersetzlich, wenn es um den Aufbau einer innigen Beziehung geht" (S. 152).
Hier wird auf 230 Textseiten ein hoch modernes Marketing-Buch vorgelegt. Es ist ein Arbeitsbuch, durchaus mit Workshop-Ansätzen. Bietet es doch am Ende jedes der insgesamt 12 Kapitel ein, zwei, drei zugespitzte Leitfragen, mit denen man den Status Quo der eigenen Organisation und Unternehmung selbstkritisch abprüfen kann. Beispiel aus dem Kapitel 4 mit dem Fokus auf die Tendenz zur beobachtbaren digitalen Spaltung in diversen Gesellschaften: "Bewerten Sie, ob die derzeit in Ihrer Organisation eingesetzten Technologien ermöglichen, Ihren Kunden persönliche, soziale oder erlebnisbezogene Lösungen anzubieten" (S. 89)?
Obgleich das Buch für Marketing-Affine geschrieben ist, können auch über den Tellerrand blickende Kommunikationsmanager und PR-Profis profitieren. Und dabei denkt der Rezensent nicht in erster Linie an die häufig zu lesende These vom zunehmenden Verschmelzen von Marketing und Public Relations. Sondern an den Ansatz einer zunehmend personalisierten und zunehmend individualisierten Ansprache einzelner Medien und einzelner Stakeholder in der Kommunikation, basierend auf einer erstklassigen Daten-Basis. Diese im Kommunikationsmanagement der Gegenwart durchaus schon präsente Grundannahme, wird nach Lektüre dieses Buches auf noch festerem Grund stehen bleiben dürfen. Und der von Kotler vorgelegte Grundgedanke eines abgestuften Service für unterschiedliche Kundentypen - Grundbedürfnisse erfüllen durch maschinelle Lösungen incl. Chatboxen und Sprachassistenten und Ergänzung durch individuell-menschlichen Service, durch E-Mail, Live-Chat, Telefonie, persönliche Begegnung - ist ein überzeugender Ansatz, auch in ökonomischer Hinsicht. Eben nicht jedem das Gleiche bieten: "All diese Optionen sollten Unternehmen aber nicht allen Kunden eröffnen. Kunden aus der unteren Kategorie erhalten in aller Regel Zugriff auf Selbsthilfe-Optionen (Online-Ressourcen und Foren), Kunden aus der oberen Kategorie stehen je nach persönlicher Präferenz alle Zugangsoptionen offen" (S. 210). Und dieser Gedanke lässt sich leicht auch auf das Kommunikationsmanagement übertragen, denkt man nur an die Unterscheidung von Stakeholder ersten und zweiten Ranges.
Markus Kiefer
Kolumne von Markus Kiefer vom 15. Januar 2023 auf www.markus-kiefer.eu
Empfehlung:
Philip Kotler, Hermawan Kartajaya, Iwan Setiawan, Marketing 5.0. Technologie für die Menschheit, Campus Verlag, Frankfurt am Main 2021, 239 S., ISBN 978-3-593-51480-2, 42,-- Euro